Autoren: Thomas Uppenbrink und Philipp Brück
Die Welt verändert sich - der Mark reagiert
Die vergangenen Jahre waren für viele Unternehmen nicht nur von technischen, sondern auch von ökonomischen und strukturellen Veränderungen geprägt. Dabei geht es nicht nur um die jüngste Vergangenheit der Corona-Pandemie, die viele Veränderungen beschleunigt hat und deren Auswirkungen besonders deutlich hervortreten ließ; mit der zunehmenden Globalisierung haben sich Beschaffungs- und Absatzmärkte verändert, eine Veränderung, die mit der Weltfinanzkrise von 2007 und der Eurokrise von 2009 nur gebremst, aber nicht aufgehalten werden konnte.
Die Vielfalt der Produkte, die auf den nationalen Märkten erhältlich sind, ist geradezu explodiert. Durch internationale Bezugsmöglichkeiten wie beispielsweise Amazon kann fast jedes beliebige Produkt zu beinahe jeder beliebigen Zeit vom Endkunden erworben werden, wenn dem nicht gesetzliche Regelungen oder eine Selbstverpflichtung des Verkäufers entgegensteht.
Saisonale Abhängigkeit als erster Stolperstein
Besonders hart getroffen wurden Unternehmen, die nicht gleichmäßig über das Jahr verteilt ihre Umsätze erzielen, sondern starke periodische Umsatzschwankungen erleben und deren Hauptumsätze von bestimmten Zeiten oder bestimmten Ereignis abhängen. Als Beispiel sei hier die Hochzeitsindustrie genannt: Das Geschäft beginnt langsam im Januar, von März bis August ist es stabil und umsatzstark und nimmt dann kontinuierlich ab, bis es um die Weihnachtszeit vollständig zum Erliegen kommt. Noch deutlicheres Beispiel ist der Verkauf von Pyrotechnik: Das ganze Jahr über werden Feuerwerkskörper, größtenteils in Fernost, geordert und nach Deutschland importiert. Innerhalb von drei Tagen vor dem Ende des Jahres erwirtschaftet der Feuerwerksverkauf dann 95 % seines Jahresumsatzes. Erst mit dem Ende des ersten Quartals des nachfolgenden Jahres, wenn alle Retouren verbucht sind, kann der Jahresumsatz festgestellt werden.
Regulative Maßnahmen als letzte unüberwindbare Hürde
Viele dieser saisonalen Geschäfte wurden durch ökonomische, politische und auch gesundheitspolitische Veränderungen der jüngeren Vergangenheit stark in Mitleidenschaft gezogen. Um bei dem Beispiel der Feuerwerkssektors zu bleiben: Sowohl 2020 als auch 2021 gab es am Silvestertag Feuerwerksverbote, Verkaufsverbote und Absagen öffentlicher Feuerwerk. Laut dem Verband der pyrotechnischen Industrie brach der Jahresumsatz von 122 Mio. € (2019) auf 20 Mio. € (2020) ein.
Auf der anderen Seite haben viele Unternehmen, die von Saisongeschäft leben, oft schon lange vor Saisonbeginn Waren bestellt, Räume gemietet und Dienstleistungsverträge geschlossen. Wenn nun die Umsätze der Saison ausbleiben, weil beispielsweise wegen eines Versammlungsverbots keine Hochzeiten mehr durchgeführt werden, stehen den Kosten der Vergangenheit keine Umsätze mehr gegenüber. Hinzu kommen oft schon seit Jahren bestehende Belastungen, die sich nun plötzlich in den Vordergrund drängen, wie beispielsweise Pensionszusagen, für die entsprechende Rückstellungen gebildet werden müssen.
Die handelsrechtliche Überschuldung als Folge
Hier kann es schnell zu einer bilanziellen Überschuldung kommen, nämlich dann, wenn in der Handelsbilanz die Verbindlichkeiten das Vermögen übersteigen. Es kommt dann zu einem Fehlbetrag, der nicht mehr durch das Eigenkapital gedeckt ist. Spätestens dann, wenn die Bilanz einen solchen Fehlbetrag feststellt, ist dringendes Handeln erforderlich. Denn auch wenn eine bilanzielle Überschuldung nicht automatisch zu einer insolvenzrechtlichen Überschuldung nach § 19 InsO führt, so ist sie doch ein deutliches Signal an den Steuerberater und die Geschäftsleitung.
Die insolvenzrechtliche Überschuldung als Insolvenzantragsgrund
Gemäß § 19 InsO ist die Überschuldung ein Insolvenzeröffnungsgrund bei juristischen Personen und bei Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, bei denen kein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist, also insbesondere der GmbH & Co. KG.
Zur Feststellung, ob die bilanzielle Überschuldung auch eine Überschuldung im Sinne der Insolvenzordnung ist, musste früher erst einmal ein Überschuldungsstatus, also eine auf einen Stichtag zu erstellende bilanzielle Vermögensübersicht angefertigt werden; die Handelsbilanz allein war für die Ermittlung der Überschuldung untauglich. Zwar bedient sich ein Überschuldungsstatus der Werte der Handelsbilanz, weist jedoch auch alle stillen Reserven und sonstige Vermögenswerte aus, die in der Handelsbilanz nicht ersichtlich sind, so dass das komplette Vermögen des Unternehmens erfasst wird; zudem werden das Anschaffungswertprinzip, das Imparitätsprinzip und das Realisationsprinzip nicht angewendet.
Positive Fortbestehensprognose als Entlastungszertifikat
Die Frage, ob der Überschuldungsstatus zu Fortführungswerten oder zu Liquidationswerten angefertigt werden muss, wurde in der Vergangenheit uneinheitlich beantwortet. Mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG) vom 18.10.2008 hat der Gesetzgeber diese Frage obsolet gemacht. Demnach liegt keine insolvenzrechtliche Überschuldung vor, wenn die Fortführung des Unternehmens nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist, wenn also eine positive Fortbestehensprognose in Form einer Zahlungsfähigkeitsprognose, die die nächsten 12 Monate umfasst, abgegeben werden kann. Bei Vorliegen einer solchen positiven Fortbestehensprognose liegt also keine insolvenzrechtliche Überschuldung vor, selbst wenn eine handelsrechtliche Überschuldung festgestellt werden musste, und damit besteht auch keine Insolvenzantragspflicht gemäß § 15b InsO.
Negative Fortbestehensprognose als Bestätigung der insolvenzrechtlichen Überschuldung
Wenn jedoch die Fortführungsprognose negativ ist, ist die Überschuldung anhand des Überschuldungsstatus zu ermitteln, wobei dann bei der Bewertung der Aktiva die Liquidationswerte angesetzt werden müssen. Ergibt sich hier wiederum die Überschuldung, besteht auch eine insolvenzrechtliche Überschuldung.
Vermeintlich ungewollte Gesetzeslücke gefunden?
Genau an der Stelle der Fortbestehensprognose scheint die Insolvenzordnung jedoch eine Lücke aufzuweisen, die insbesondere solchen Unternehmen zugute zu kommen scheint, die ein sehr stark saisonal schwankendes Geschäft haben. Die Insolvenzordnung nennt nämlich in § 19 keine Frist, in der die Fortbestehensprognose aufzustellen ist. Der Schritt von der bilanziellen Überschuldung zur möglichen insolvenzrechtlichen Überschuldung scheint also in einem nicht festgelegten Tempo vollzogen werden zu müssen. Hier scheint es also eine Möglichkeit zu geben, durch Verschleppungstaktik die Problematik zu umgehen.
Abweichende Auswirkungen saisonaler Umsätze auf die Prognosen
Um bei dem Beispiel des pyrotechnischen Sektors zu bleiben: Wenn im Juni des Jahres eine bilanzielle Überschuldung festgestellt wird, kann erst im Januar des Folgejahres, wenn die Umsätze der drei Verkaufstagen feststehen, einigermaßen sicher beurteilt werden, ob die Fortbestehensprognose in Gestalt der Zahlungsfähigkeit positiv oder negativ ausfällt. Denn vorher kann kaum sicher beurteilt werden, welche Umsätze tatsächlich in den drei entscheidenden Tagen getätigt werden. Kann der Steuerberater also mit dem Argument, dass eine Beurteilung überhaupt nicht möglich ist, das Anfertigen einer Fortbestehensprognose (das tunlichst nicht von ihm selbst, sondern von einem darin erfahrenen Dritten erfolgen sollte) so lange herauszögern, bis überhaupt eine Datenbasis erkennbar ist? Schließlich nennt das Gesetz keine Frist, in der diese Prognose erstellt werden muss.
Teleologische Auslegung des Gesetzestextes ist geboten
Wer sich auf diese vermeintliche Gesetzeslücke verlässt, begibt sich schnell auf dünnes Eis. Durch die Formulierung „es sei denn“ in § 19 Abs. 2 S. 1 InsO macht der Gesetzgeber klar, dass nicht etwa eine negative Fortbestehensprognose die Voraussetzung für die insolvenzrechtliche Überschuldung ist, sondern eine positive Fortbestehensprognose den Ausnahmefall darstellt, der eine insolvenzrechtliche Überschuldung per Definition ausschließt bzw. neutralisiert.
Durch diese Technik der Ausnahmedefinition zwingt das Gesetz denjenigen, bei dem eine bilanzielle Überschuldung vorliegt, durch eine positive Fortbestehensprognose den Ausnahmezustand des Nicht-Vorliegens der insolvenzrechtlichen Überschuldung bei Vorliegen der bilanziellen Überschuldung zu dokumentieren. Folglich ist eine Frist oder ein Zeitrahmen für die Erstellung einer positiven Fortbestehensprognose gar nicht notwendig, denn grundsätzlich geht das Gesetz davon aus, dass bei Vorliegen einer bilanziellen Überschuldung auch eine insolvenzrechtliche Überschuldung vorliegt.
Striktes Handeln nach gesetzlichen Vorgaben zum Schutz vor Haftungsrisiken!
Somit gilt auch hier die allgemeine Frist des § 15a InsO: Ein Insolvenzantrag ist, sobald die Überschuldung festgestellt wird, ohne schuldhaftes Zögern zu stellen, spätestens aber (im Fall der Überschuldung) sechs Wochen nach Eintritt der Überschuldung. Dabei wird teilweise sogar vertreten, dass die Frist schon in dem Moment zu laufen beginnt, in dem die Überschuldung objektiv eingetreten ist, selbst wenn Steuerberater und Unternehmer davon noch gar keine Kenntnis erlangt hatten.
Auch wenn dies ein rein akademisches Problem zu sein scheint, weil man de facto nicht handeln kann, wenn man keine Kenntnis hat, verdeutlicht es jedoch: Spätestens wenn die Erkenntnis der Überschuldung vorliegt, beispielsweise durch Anfertigen eines Bilanzentwurfs, beginnt die Frist des § 15a Abs. 1 S. 2 InsO von sechs Wochen zu laufen.
Praktische Bedeutung für den steuerlichen Berater
Hier wiederum ist der Steuerberater in der besonderen Pflicht, seine gesetzlich festgeschriebene Rolle als beratender Experte wahrzunehmen, seinen Mandanten auf die nunmehr bestehende Insolvenzantragspflicht hinzuweisen und ihn hinsichtlich einer möglichen Fortbestehensprognose zu beraten. Ansonsten ist die Haftung für den Steuerberater vorprogrammiert (vgl. § 102 StaRUG).
In diesem Zusammenhang muss der Steuerberater auch daran denken, dass die Sechswochenfrist nicht etwa eine Frist ist, die für die Anfertigung einer Fortbestehensprognose zur Verfügung steht; sollte die Fortbestehensprognose nicht positiv ausfallen, so muss innerhalb dieser Frist auch der Insolvenzantrag gestellt werden, dessen Anfertigung auch einige Zeit in Anspruch nimmt. Der Steuerberater ist hier also dringend darauf angewiesen, bei Vorliegen einer bilanziellen Überschuldung die Angelegenheit sofort in bewährte und schnelle Hände zu geben, sodass auch in dem Fall, in dem eine positive Fortbestehensprognose nicht oder nicht rechtzeitig erstellt werden kann, ein Insolvenzantrag angefertigt werden kann, ohne dass die Frist verletzt wird.
Ansonsten droht ihm die Haftung nicht nur gegenüber dem Mandanten, sondern gegenüber sämtlichen Gläubigern, die geltend machen können, dass sie besser gestanden hätten, wenn der Antrag rechtzeitig und richtig gestellt worden wäre. Mit einem Verschleppen der Fortführungsprognose tut der Steuerberater weder sich noch seinem Mandanten einen Gefallen, sondern verstrickt sich immer tiefer in Haftungstatbestände.